Gedanken von Alois Hörlesberger zu Wolfgang Katzers Roman

„DIE ERFINDUNG DER SEELE“

Schon der Titel wirft viele Fragen für mich auf: Gibt es SEELE? Was ist eine Seele? Wer besitzt eine Seele? Ist Seele eine Erfindung? Wofür? Für etwas, das wir sonst nicht erklären können, also eine Art Hilfsbegriff? Gibt es Seele als ein einziges Ganzes oder viele verschiedene Seelen? Wer hat die Seele erfunden? ….

Anouk, die Protagonistin des Romans, ist eine in vielen Farben und Nuancen changierende Figur, in einem ständigen Wechselspiel zwischen realem Menschen (soweit „real“ überhaupt auf eine Romanheldin zutreffen kann) und Fiktion, selbständig entscheidender und handelnder Person und von außen gesteuertem Roboter, einerseits eine von Emotionen bewegte Frau und andererseits eine seelenlose, mechanische Puppe, als die sie den Namen Olympia/Anima trägt, ein Mensch wie du und ich, in Komisches und Tragisches verstrickt, und zugleich eine erschreckende Vision von einem Konstrukt künstlicher Intelligenz, Pantomimin mit nicht abgeschlossener Ausbildung und Supermarktangestellte.

Genauso vielschichtig und vielfältig ineinander verwoben sind die zahlreichen Elemente der stringent und konsequent ablaufenden Handlung, in die immer wieder Querverbindungen zu Poesie, Malerei, Musik, Oper, Tanz, Theater, Magie, Philosophie, Psychologie, Theologie u. a. Kunst- u. Wissenschaftsbereichen eingeflochten sind.

Ein genialer Kunstgriff ist die auch für Anouk verblüffende Tatsache, dass sich in den zahlreichen schriftlichen Aufzeichnungen ihres an Demenz leidenden und in einem Pflegeheim untergebrachten Vaters Verse, Zitate, Sätze, ganze Gedichte finden, die er und Anouk wortident zu unterschiedlicher Zeit und unabhängig voneinander geschrieben haben.

Anouk steht zwischen zwei Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten: einerseits ist da ihr Lebensgefährte Harry, der davon träumt, einmal als Schauspieler-Magier-Entertainer groß herauszukommen und der nicht nur sprichwörtlich, sondern auch ganz real auf die Nase fällt und schließlich nach einem Sturz aus größerer Höhe im Rollstuhl landet und schließlich auf tragische Weise Selbstmord begeht. Auf der anderen Seite der mit einer Art Doppelidentität agierende

Mackentzie Connor/Kentzy, der als Konstrukteur und Erfinder Animas in der Werbekampagne der Supermarktkette Phoebe (bei der Anouk angestellt ist) auftritt und zugleich Partner Anouks wird.

Ein weiterer Handlungsstrang sind die vielen Besuche Anouks bei ihrem Vater im Pflegeheim, durch die die vorhin schon erwähnte Wortidentheit von Texten und Gedichten aus Anouks Feder und der ihres Vaters immer beklemmender wird, wodurch Anouk aber auch immer weiter angetrieben wird, die Biographie ihres Vaters zu schreiben.

Immer wieder kommen im Roman die Tauben vor, die es ja in jeder Großstadt zu Tausenden gibt, so auch in Wien, wo der Roman spielt. Die Tauben beobachten das Tun und Lassen der Menschen, kommentieren es sozusagen ohne Worte – nein, auch Gurren ist eine Sprache – stellen sich sozusagen taub (nomen est omen!) und bekommen doch alles mit – eine großartige Metapher für die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, zwischen Anspruch und Erfüllung, zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit.

Viele Bögen, Brücken, Gegensätze spannen sich auf in diesem großartigen Roman: Individuum und Gesellschaft, Mann und Frau, Natur und Technik, Seele und (scheinbar?) leblose Materie, Himmel und Erde, Wahrheit und Lüge, Realität und Fiktion, Leben und Tod.

Wolfgang Katzers Stil – typisch sind Wortgruppen, halbfertige Sätze, die der Leser sich ergänzen kann/soll – den er schon in „Die Sonne der Maulwürfe“ gepflegt hat, der dort aber noch rauh wie grobes Schleifpapier daherkommt und den Lesefluss häufig bricht – wird zunehmend feiner, flüssiger, poetischer. Dazu tragen auch die zahlreichen lyrischen Passagen bei, die vielen Wortbilder, Metaphern, Vergleiche. Als ein besonders gelungenes, intensives, den Titel des Romans berührendes Beispiel sei folgende Stelle genannt:

„ …. Ihr kennt mich nicht, der ich aus eurer Sehnsucht bestehe, und meine Seele ist dort zu Hause, wohin ihr träumt; in Lichtnächte und Angstwüsten, tiefe Berge und hohe Schluchten.“ (S. 132)

„Die Erfindung der Seele“ ist zweifellos Wolfgang Katzers bisher bestes Werk, und ich wünsche mir von meinem langjährigen Freund noch so manchen weiteren Band, in den ich – wie in „Die Erfindung der Seele“ – so tief eintauchen kann, dass ich die Welt um mich herum vergesse.

(Wien, am 12. August 2020)