Als Leon Wille beschloss, mit den für ihn immer unübersehbarer werdenden Folgen eines Ereignisses, das bereits sieben Jahre zurück lag, an die Öffentlichkeit zu treten, tat er es unter anderem in der Hoffnung, verstehen zu lernen. Alle Versuche, den Zustand seiner Tochter auf einen Vorfall zurückzuführen, der sich ihm immer schon darstellte, als wäre er nie passiert, sollten sich mit den Jahren zugleich als ebenso sinnvoll wie verrückt erweisen, wie er in der Nacht zu seinem vierzigsten Geburtstag, zwei Tage, bevor es geschah, geräumt hatte, aufzuwachen, und im Traum begriff, dass es nur ein Traum war.

War ich auch dabei? fragte Edda, als er ihr am nächsten Tag davon erzählte.

Ja, aber du hast weitergeschlafen.

Edda schlief damals oft länger, übermüdet von den langen Nachtschichten als Kellnerin im Bierhof in der Wiener Inneren Stadt, die Beine hochgelegt, weil ihre Füße schmerzten, und Wille saß dann im Morgenmantel am Küchentisch vor Stapeln angelesener Bücher zwischen Brot und Paradeisern vom Vorabend und Kerzenstummeln und Räucherstäbchen auf Kaffeeuntertassen. Edda war zehn Jahre jünger als Wille, Luftwesen, wie er sie gern nannte, das sich wegen überschäumenden Temperaments aus der oberen Welt der Elfen und Sylphen in die seine verirrt habe, bloßfüßig und mit großen, zerzausten Flügeln.

Nessa, nessa, nessa,

hey, eieo.

Sie liebte es, Menschen zu beobachten, ihre Leben weiterzuspinnen, erzählte Wille von einem Stammgast, der seit Jahren ausschließlich Schweinefleisch bestellte, und immer mehr die Züge eines Schweines annahm, oder von dem Gast, der lange nach dem Tod seiner Frau immer noch auf zwei Gedecken bestand.

Hinten an dem kleinen Tisch, du hast die alte Frau sicher noch gekannt!

Einmal, als sie längst noch nicht daran dachten, Kinder zu bekommen, erklärte sie, sie sei davon überzeugt, in einem vergangenen Leben ihre Tochter gewesen zu sein, mit blauen Augen und rötlichen Haaren, und sie habe geschrieben, nachts, wenn alle schliefen.

Was?

Ich weiß nicht mehr, hob Edda die Schultern.

Wille hörte ihr zu, rauchte, zuviel, mehr als dreißig am Tag, wenn es später wurde, versuchte immer wieder, aufzuhören, schaffte es nie über zwei Wochen hinaus, verband mit der Zeit den feuchtsüßen Geruch der holländischen Halfzwaremischung so sehr mit Eddas Geschichten, dass sie ihm einfielen, wenn er allein im Kaffeehaus saß, seine Zigaretten drehte und Programme schrieb, die immer mehr Eddas Erzählungen entstiegen schienen. „Wiedergeburtenkontrolle“ nannte er sein letztes Programm. Zwei bis dreimal die Woche trat er damit in Kleintheatern und Clubs auf, und eine Zeitung schrieb unter dem Titel „Skurrile Denkakrobatik“: Eine kurze Geschichte der Zeitlosigkeit, „ein Leben lang“ bekommt eine neue Bedeutung.

Auszug aus „Ayasha tanzt“
erschienen im Ibera Verlag

ISBN/EAN: 9783850522960
Seitenzahl: 512
Format: 22 x 14 cm
Hardcover/Gebunden